„Das ist die eurythmie der zukunft.“
Im Mai 2014 brachten Markus und Andrea Weder aus Austin, Texas, zusammen mit dem Sprachkünstler Jeremiah Turner, dem Cellisten Jun Seo und der Geigerin Risa Ando ihre neue Eurythmie-Aufführung «Beginnings» nach Fair Oaks, Kalifornien.
Es war die bemerkenswerteste Eurythmie-Aufführung, die ich je gesehen habe.
Doch zuerst ein paar klärende Bemerkungen: Mit 85 Jahren gehöre ich sicherlich
nicht mehr zur jungen Generation. Ich habe nur wenig Schulbildung genossen, und
ich habe kein nennenswertes musikalisches Talent. Hingegen male ich sehr gerne,
und noch mehr liebe ich das Gärtnern. Ich liebe Farben und lebende Wesen. Und ich bin eine lebenslange Schülerin von Rudolf Steiner.
Was also war es an diesem Eurythmie-Abend, was mich so beeindruckt hat? Der
erste Teil des Abends enthielt vor allem ernste Werke der Dichterin Denise Levertov, dazwischen Klänge der Sonate für Violine und Cello des französischen Komponisten Maurice Ravel.
Die Eurythmisten traten von vorne in den Raum. Schon die allerersten Schritte
machten deutlich, mit wie viel Liebe und Präsenz sie den Raum bewohnten. Ihre Gesichter waren neutral und offen, und wir nahmen wahr, wie ihre Ohren weit
geöffnet waren, um zu hören, was im Raum auftauchen würde. Die Verbindung zwischen den beiden und zwischen ihnen und dem Publikum war spürbar. Dann
begann das Vortragen, und mit gewandten Gesten brachten sie die Bilder der
Gedichte zum Leben.
Beginnings
But we have only begun
To love the earth.
We have only begun
To imagine the fullness of life.
How could we tire of hope?
So much is in bud.
How can desire fail?
---we have only begun.
to imagine justice and mercy,
only begun to envision
how it might be
to live as siblings with beast and flower,
not as oppressors.
Die Musik war ein intimes Gespräch zwischen zwei Instrumenten, und als die beiden Eurythmisten sich bewegten, konnte ich das Gespräch zwischen Cello und Geige im Raum wahrnehmen. Die Gebärden der Eurythmisten waren präzis und elegant und drückten genau das aus, was ich hörte.
Für den zweiten Teil der Aufführung hatten die Eurythmisten eine Reihe japanischer Tankas ausgewählt, mit starken symbolischen oder metaphorischen Bildern. Begleitet wurden diese von Werken für Cello solo der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina.
Dieser Teil der Aufführung fesselte mich noch mehr. Die Künstler legten zu Beginn
ein langes, buntes Seidentuch auf den Boden. Der Farbtupfer auf dem Boden sollte
die Stimmung der Beleuchtung verstärken, so wie wenn ein Maler eine einzelne Linie auf die Leinwand malt. Im Laufe des Abends wurden drei weitere Seidentücher auf
den Boden gelegt – eine subtile Geste, die mithalf, die Stimmung der Gedichte zu malen. Obwohl wir es nicht gewohnt sind, dass in einer Eurythmie-Aufführung Objekte in den Raum gelegt werden, wirkte die Idee in diesem Fall nicht wie ein Gag, sondern sehr bedeutungsvoll.
Die Tankas waren entzückend. Einige waren humorvoll – so wie das Gedicht vom Huhn, das ein Staubbad nahm, oder jenes vom alten Mann, der seinen Schirm versehentlich
in ein Fahrradgeschäft zur Reparatur brachte! Andere Tankas waren ernsthafter, doch alle zeugten von einer bezaubernden Kunstfertigkeit, und jede einzelne Geste war die perfekte Verkörperung eines Sprachklangs. Nichts war zu viel, nichts wirkte gekünstelt: Alles war gesetzmässig und doch auf wunderschöne Art ursprünglich.
An dieser Stelle möchte ich eine Bemerkung zu den Kostümen machen, denn obwohl
sie zum Teil überraschend waren, fand ich jedes die perfekte Wahl. Zum Beispiel trug Andrea ein leuchtend rotes Kleid zu einem Gedicht über einen Garten. Als ich darüber nachsann, merkte ich, dass beim Betrachten der Bewegungen augenblicklich ein Gegenbild in Grün in meiner eigenen Seele entstand!
Am meisten beeindruckte mich allerdings die eurythmische Wiedergabe der Cellowerke von Sofia Gubaidulina. Diese Musik würde ich mir zu Hause nie anhören. Sie ist rau und kratzend, manchmal schrill, meistens unrhythmisch. An vielen Stellen der Partitur gibt die Komponistin lediglich an, der Spieler oder die Spielerin solle für einige Sekunden improvisieren, bis die Partitur wieder einsetzt. Die Eurythmisten mussten also während des Stücks im Dialog mit dem Cellisten stehen und intuitiv erspüren, welche Töne er spielen würde!
Beim Zuhören und Zusehen hatte ich plötzlich die Erkenntnis: Hier ist die Menschheit JETZT! Dies ist es, was wir hören müssen, mit allen Dissonanzen und gespannten Harmonien und Rhythmen, denn dies drückt perfekt die Spannung aus, die wir alle
in dieser Zeit erleben!
Ich habe in meinem Leben einige Eurythmie-Aufführungen gesehen, und die meisten gefielen mir gut. Aber meist war die Erinnerung bis am nächsten Morgen bereits wieder verblasst. Diese Aufführung hingegen bleibt bei mir – noch jetzt, Tage später. Und wie mich die Eindrücke wieder und wieder durchlaufen, spüre ich: «Das ist die Eurythmie der Zukunft. Das ist es, wohin die Eurythmie sich entwickelt, und es ist wunderschön.»
Johanna Frouws
Fair Oaks, California
28. Mai 2014